wie sie sich in Berichten des „Hammelburger Journal“ widerspiegelt
Das Wetter spielt verrückt
Das Jahr hatte mit unglaublicher Kälte eingesetzt. Über den vollkommen mit Eis bedeckten Main bei Lohr konnten Passanten gefahrlos spazieren, die Sinn war gar „bis zum Grunde“ gefroren. Im Aschaffenburger Raum folgerte man aus dem schlechten Zustand der Futterpflanzen die wenig tröstliche Aussicht auf einen großen Futtermangel im kommenden Frühjahr. „Da heißt es jetzt schon ordentlich einkaufen“, riet das Journal, „um die Thiere über den Winter zu bringen.“ Nur dort, wo eine geschlossene Schneedecke die Saaten schützte, konnte man weiterhin auf eine gute Ernte hoffen. Dennoch dauerte es noch ein paar Wochen, bis die steigende Nachfrage nach Heu den Preis in die Höhe trieb.
In Hammelburg stieg die seit Wochen anhaltende Kälte weiter. „Die Erde scheint ihre Stellung im Weltenraume verändert zu haben“, schrieb das Blatt. „Christiansund im hohen Norden meldet 4° Wärme und am Maine herrschen 33° Kälte.“ Vielen Bauern erfroren die Kartoffeln im Keller. Die Verfütterung gefrorener Kartoffeln und Rüben aber ließ das Vieh krank werden.
Mitte Februar setzte frühlingshaftes Wetter ein. Aber der Landmann traute dem Wetter-Frieden nicht. Alte Bauernregeln drohten mit Kälte zu Ostern. Dann setzte freundliches Wetter ein. Die allgemeine Zuversicht, die der wohltuend warme Sonnenschein allenthalben geweckt hatte, erhielt ihren amtlichen Segen durch den „offiziellen Saatenstandsbericht“ vom 15. März: „Die Wintersaaten berechtigen zu guten Hoffnungen, Klee und Futterpflanzen versprechen guten Ertrag“. Der Regen blieb weiter aus.
Noch Anfang April freuten sich die Winzer und Bauern über die trockenen Tage; sie verhinderten Schaden durch den gefürchteten Nachtfrost. Die Beobachtung, „daß dieses Wetter dem Wachstum an Fütterung und Saaten bisher Stillstand brachte“, ist noch nicht Ausdruck einer Sorge, sondern Feststellung einer Gegebenheit, die, wie man hoffte, vom ersten Frühjahrsregen weggewischt würde. Das war am 15. April.
Fünf Tage später kamen den Landwirten die ersten Bedenken. Noch möchte der Journalist das Gerücht nicht mittragen, „die anhaltende trockene und rauhe Witterung mindere die Aussichten zur neuen Ernte“.
Eine Woche später ist die Gefährdung der Landwirtschaft nicht länger zu leugnen. „Für die ganze Vegetation ist baldiger ausgiebiger Regen nothwendig“. Die Frühjahrssaat geht nur sehr langsam auf. In der Rhön fängt der Roggen an, „in Folge der trockenen Witterung ein sehr spitzes Aussehen zu bekommen. Sehr zu leiden haben die Kleefelder.“
Am 25. April beschlossen in Hammelburg die „vereinigten Wiesen-Wässerungs-Genossenschafts-Ausschüsse, die Wässerung der Saalewiesen wegen anhaltender Dürre einzusetzen.“
Sorgen und Zuversicht wechseln sich ab
Unauffällig und noch kaum spürbar reagierte der Getreidemarkt auf die bittere Prognose, daß immer noch keine Aussicht besteht auf den für die Saaten dringend notwendigen Regen: „Die Preise für Brodfrüchte und Hafer gingen etwas in die Höhe“. Auf den Schweinemarkt hat die Trockenheit noch keinen Einfluß: „Auch die Landleute der Umgebung kauften viel, weil es noch viele Kartoffeln zum Füttern gibt“. Ein Zwang zum Verkauf bestand deshalb nicht.
In München wird die Gefahr, zu diesem Zeitpunkt durchaus zurecht, heruntergespielt: „Über die Saaten hört man zwar klagen, die meisten Berichte lauten jedoch dahin, daß, wenn es jetzt noch regnet, der Schaden nicht groß sein dürfte.“ Als wollte der Himmel diese Zuversicht belohnen, fällt um München bei Südwind warmer Regen. Gleichzeitig vermeldet der Chronist: „an vielen Orten im Vorspessart den langersehnten Regen in ausgiebigster Weise.“
Ängste breiten sich aus
Nicht so in unserer engeren Heimat und in der Oberpfalz: „Hier lechzt alles nach Regen; der Staub ist geradezu unerträglich“. Der Wassermangel läßt den Feuerwehren kaum noch Chancen, der aufgrund der allgemeinen Trockenheit häufigeren Brände Herr zu werden. Im April meldet das Journal innerhalb von 14 Tagen im Bezirk Hammelburg fünf Brände, davon drei Waldbrände. Die Hoffnung auf Besserung beginnt der Angst Platz zu machen. Man erinnert sich der Prophezeiung „des berühmten deutschen Astronomen Klinkerfues „(1827 - 84), daß wir mit dem Jahr 1893 in eine heiße und trockene Periode von 18 Jahren treten.“ Die Erinnerung an ähnliche Trockenjahre wird wach, wie das von 1822. Damals war vom Februar bis zum 13. Juli kein Niederschlag gefallen: „Es verdorrten alle Gräschen. Das Stroh war gelbweiß, wie gebleicht.“ In Gegenden, in denen spät gesät worden war, ernteten die Bauern nichts; die Saat war nicht aufgegangen. Man erkannte die Parallele zur Gegenwart: „Allerdings keine glänzenden Aussichten für die Landwirtschaft.“
Dem Hungerjahr 1817 in Bayern war ebenfalls eine große Trockenheit vorausgegangen. Folge war, „daß Wiesen und Äcker einer Sandwüste glichen, daß die Bäume lautlos ständig austrockneten. Das Vieh brüllte vor Hunger in den Ställen . . .“
Der Mai brachte keine Wetteränderung. Nur an den Rändern Unterfrankens sorgten hin und wieder Gewitter für kurze Erleichterung. Dem Maingebiet und der Rhön fehlten selbst sie. „Gras und Klee schwinden immer mehr, die Wiesen sehen wie abgesengt aus. Das einzig Schöne in den Fluren sind die Weinberge, welche sich ausnehmend kräftig und rasch entwickeln.“ Für die Bauern hier war das ein schwacher Trost. Vom Weinbau allein konnten sie nicht leben. Viehmast war einträglicher.
Dass die Natur unansehnlich geworden war beklagten auch die Kurgäste von Bad Kissingen: „ . . . da, wo sonst im Walde das Auge auf grünen saftigen Auen ruhte, da hat es nur dürre gelbe Flächen zu sehen . . .“
Der Futtermangel zwingt die Bauern zu Notverkäufen
Von Ende April an stieg auf dem Viehmarkt von Schweinfurt das Angebot an Rindern und Schweinen; die Preise gaben langsam nach. Die norddeutschen Viehgroßhändler warteten ab. Nur kräftige und junge Tiere konnten zum alten Preis verkauft werden. „Geringe Ware war wegen der herrschenden Futternoth fast nicht verkäuflich und mußte weit unter Preis abgegeben werden.“
Dieselbe Tendenz war auf den kleinen regionalen Viehmärkten zu beobachten. In Hammelburg war das Geschäft mehr als flau, „weil der eigentliche Viehhandel wegen Futternoth gänzlich darniederliegt und sich das ganze Geschäft auf den geringen Bedarf in Schlachtvieh beschränkt. Rinder und Schweine gingen im Preise ganz erheblich zurück“. Zur gleichen Zeit war in Schweinfurt nur noch „Export-Waare“ gesucht, „und hoch im Preise, schöne schwere Zugochsen. Dagegen war Schlachtvieh selbst besserer Qualität günstig zu kaufen.“ Am 14. Juni „sanken außer für schöne schwere Thiere die Preise so tief, wie noch niemals. Kühe spottbillig, es wurden Stücke um 50, 30, ja selbst 20 Mark losgeschlagen“. Für Ochsen 1.Qualität wurden immerhin noch 1072 - 1148 gezahlt. „Die äußerst niedrigen Preise, selbst für schöne Stiere, veranlaßten die norddeutschen Käufer, auch diese in großen Parthien aufzukaufen und das war gleichsam noch ein Glück, denn ohne den Aufkauf zur Ausfuhr wäre kaum ein Käufer zu finden gewesen, da in den umliegenden Gauen alles verkaufen will und Niemand kaufen kann. Leider wird durch diesen nothgedrungenen Massenverkauf - es wird fast kein Kalb zur Aufzucht zurückbehalten, alle werden selbst zu Spottpreisen verkauft - der schöne Viehstand in hiesiger Gegend derart dezimirt, daß daraus für die nächsten Jahre die schlimmsten Folgen entstehen werden.“.
Wirtschaftliche Folgen für Hammelburg
Im Dezember 1890 hatte Hammelburg (2889 Einwohner) einen Viehbestand (1892) von 789 Rindern und 478 Schweinen. Die Stadt allein, ohne Ortsteile.
Am 1. Dezember 1893 ergab die Viehzählung für Hammelburg 129 Rinder und 63 Schweine weniger als im gleichen Monat des Vorjahres. Im ganzen Amtsbezirk nahm der Viehstand um 2653 Rinder und 1885 Schweine ab. Die langsame Steigerung des Mastviehbestandes im vorausgegangenen Jahrzehnt um 905 Rinder und 1026 Schweine war zunichte gemacht.
Über den Gänsemarkt in Schweinfurt am 21. Juni heißt es im Journal, er sei so stark wie ein Martinimarkt bestellt gewesen. Der Futter- und Geldmangel auf dem Lande zwang die Bauern, schon jetzt ihr Geflügel zu verkaufen. „Die Preise stellten sich sehr niedrig auf 1 - 1,30 Mk, für ganz schöne Gänse auf 1,50 Mk pro Stück.“ Das entsprach genau dem Preis für ein großes und ein kleines Päckchen „Rattentod“ in der Drogerie.
Preisanstieg auf dem Getreidemarkt
Auf dem Getreidemarkt beobachten wir die entgegengesetzte Entwicklung. Am 22.April ist trotz gewachsener Nachfrage eine Preissteigerung noch nicht eingetreten, „da noch große Vorräte lagern und die Wintersaaten durch die anhaltend große Trockenheit und Nachtfröste bis jetzt noch nicht gelitten haben, im Gegentheil noch sehr schön stehen“.
Dann aber ziehen die Preise an: bis Anfang Juli für Weizen pro 100 Kilo von 16 Mark auf 17,75, für Roggen von 13,60 auf 15,75, für Hafer gar von 14 auf 20 Mark. Der Preisanstieg verschärfte die Not der Bauern, deren geringe Erlöse aus dem Viehverkauf vielen einen Ankauf von Futtermitteln unmöglich machte.
Die Preise des Heus, meldet Ebern, „haben eine exorbitante Höhe erreicht: der Zentner kostet 5, 6, 7, ja 10 Mark, wenn solches überhaupt noch zu haben ist. . . Der Klee, der jetzt gemäht werden sollte, ist nicht handhoch und steht da ein armseliges Büschchen und dort wieder eines“.
Laubverfütterung
„Die Wiesen sind wie versengt; wie kann da der Bauernstand sein Vieh durchbringen? Er schneidet das Getreide ab und füttert damit. Und im Herbste hat er nichts. Es wäre ja so zu Grunde gegangen, also verfüttert. In dieser schweren Noth bleibt nichts anderes übrig, als Laub zu füttern und wimmeln deßhalb unsere Gemeindewaldungen von Laub zupfenden Kindern und Erwachsenen, die in Säcken das wirklich gute und auch nahrhafte Futter emsig nach Hause schleppen“
Die Not breitet sich aus
Die Not beschränkte sich nicht auf die Landbevölkerung. In Lohr verzichteten die Aktiven des Gesangvereins schweren Herzens auf ihr Vorhaben, Ende Juli das 50jährige Stiftungsfest zu feiern: „Die durch die anhaltende Dürre stetig zunehmende Noth in vielen Bevölkerungskreisen, die selbstverständlich in zunehmender Weise auch einen empfindlichen Rückgang für alle Geschäfte zur Folge hat, ist . . Veranlassung geworden, die Unterlassung der mit großen Kosten verknüpften Feier ins Auge zu fassen“
Pachtkosten für Wiesen steigen
Am 3. Juni informierte der Hammelburger Magistrat die Leser des Journals durch Inserate, daß am 5. und 12. Juni städtische und Stiftungswiesen öffentlich verpachtet würden, ein bedeutsames Ereignis bei der wachsenden Futternot. Pro Morgen brachte die Verpachtung 80 - 120 Mark, fast das doppelte der Einkünfte in anderen Jahren. Ein späterer Bericht ergänzte, „daß für einzelne bessere Wiesen bis zu 175 Mark Pacht pro Morgen erzielt wurden, also fast der dreifache Betrag der früheren Durchschnittspreise“. Für manche Pächter müssen diese hohen Kosten ein kaum noch tragbares finanzielles Opfer gewesen sein; aber die Alternative dazu war, Vieh zu Spottpreisen zu verkaufen. Verständlich deshalb die Überlegung, die damals heftig diskutiert wurde: „Wäre es angesichts solcher Thatsachen nicht geradezu nothwendig, daß sich die Milchproduzenten über Erhöhung der Milchpreise einigen? Recht und Billigkeit einer Preiserhöhung wird wohl niemand absprechen können“.
Selbstmord aus Verzweiflung
Anfang Juni war für einzelne Landwirte das Elend buchstäblich nicht länger tragbar: „In Wiesenthal bei Lengfeld hat sich am 1. Juni ein Landwirth, weil er sein Vieh nicht mehr zu ernähren vermochte, aus Verzweiflung erhängt“. Vierzehn Tage später meldet das Journal, daß sich in der Gegend von Ebern in kurzer Zeit drei Bauern aufgehängt haben, „da sie durch die herrschende Futternoth den Untergang ihres ganzen Hausstandes befürchteten und geistesgestört wurden“
An guten Ratschlägen fehlt es nicht
Jetzt spätestens drängt sich die Frage auf: Hat denn niemand diesen armen Menschen geholfen?
Die billigste Form der Unterstützung sind gute Ratschläge, doch selbst sie ließen auf sich warten. Ein „landwirtschaftlicher Sachverständiger“ verbreitete sich so enthusiastisch über den Nutzen von Kunstdünger, der in den verschiedensten Zusammensetzungen für jede Art von Boden und Pflanze Verbesserung verspreche, daß seine geschäftlichen Interessen unübersehbar sind.
Mitte Juni wurde aus München „darauf aufmerksam gemacht, daß die südafrikanischen Bauern das Fleisch zu Zeiten des Fleischüberschusses für knappere Zeiten zu konservieren verstehen. Sie schneiden dasselbe gleichlaufend mit den Fasern in zolldicke Streifen, die sie in Salz rollen, alsdann in der Sonne aufhängen und trocknen . . . bis es eine unserem Rauchfleisch ähnliche Konsistenz erhält“.
Als Futtermittelersatz empfahl das „Hammelburger Journal“ Reisfuttermehl. „Dasselbe muß mit kaltem Wasser angerührt, dann aber alsbald mit siedend heißem Wasser gebrüht und tüchtig gerührt werden“, keine leichte Zubereitung. Das Blatt ergänzte mit diesem Rezept ein Inserat des Hammelburger Kaufmanns A. Schmal: „Prima Reisfuttermehl - zu äußerst billigem Preise“.
Gleichzeitig wurde „von vielen Seiten auf die neue Futterpflanze, die Waldblatterbse, hingewiesen, die . . . auch bei trockenstem Wetter reiche Futtererträge liefert“. Sie sei „die Pflanze der Zukunft, durch die jede Futternoth beseitigt wird“. Die des Jahres 1893 hat sie nicht beseitigt, nicht einmal gelindert.
Nachbarschaftshilfe
Es gab auch Nachbarschaftshilfe. Nur ist, wenn es allen schlecht geht, ein hilfsbereiter und zur Hilfe fähiger Nachbar schwer zu finden. Aber es gab sie: Albertshausen erhielt aus dem Gemeindevermögen eines Nachbarortes „ein Kapital von 20 000 Mark zu creditiren, da bei all’ derartig schweren Zeiten die Selbsthülfe vor Allem zuerst eingreifen müsse. In Albertshausen (ist) die Futternoth so groß, daß wenn nicht alsbald Abhilfe getroffen (wird) selbst das Anspannvieh abgeschafft werden müßte“.
Als großzügiger Helfer gehört auch der Herzog von Meiningen erwähnt: „ . . . in Folge der Futter-noth (hat er) angeordnet, daß von seinen 600 Hirschen 400 abgeschossen werden und . . . die Abgabe von Futterersatz aus dem Walde und Streu genehmigt . . . Zugleich spendete derselbe 30 000 Mark zur Abhilfe des Futtermangels“.
Laubfutter
Im Laubfutter sahen die Bauern einen brauchbaren Heuersatz. Nach Meinung eines Forstamtes sol-len „120 Kilogramm Laubfutter . . . 100 Kilogramm mittlerem Wiesenheu gleichwertig sein“. Am 27. Mai wurde vom königlichen Staatsministerium der Finanzen „die Abgabe von Streu, Streusurrogaten und Gräsern auf geräumten Schlägen, unbestockten Flächen etc. und die Gestattung der Waldweide im Interesse der Landwirthschaft thunlichst erleichtert“.
Aber so ganz wollte der Staat auf das Geschäft mit der Waldstreu nicht verzichten. Als das Kreiskomitee des landwirtschaftlichen Vereins in Würzburg die kostenlose Abgabe von Waldstreu forderte oder doch wenigstens eine Ermäßigung auf 50 Pfennig pro Raummeter, verstand sich Vater Staat nur auf eine Preisreduzierung von 40 %, von 1,90 Mark auf 1,10 Mark. Das von der Regierung selbst gewünschte Entgegenkommen schloss nicht aus, daß eifrige Waldaufseher, wie nahe dem von der Not besonders gebeuteltem Albertshausen, „den armen Leuten das gesammelte Laub abgenommen und in einer Scheune (zu Aura) hinterlegt“ haben, „wo es sehr bald verfaulte, während zu Hause (in den Ställen) das Vieh vor Hunger brüllte“.
Klagen der Forstleute
Manchmal scheinen auch Bauern auf der Suche nach dem begehrten Futter im Walde des Guten zuviel getan zu haben. Forstämter klagten, daß die „aus den Waldungen gewährten Nutzungen in einer höchst rücksichtslosen, die Bestände ohne jeden dringenden Grund schädigenden Weise ausgeübt werden“. Und wie aus dem Spessart gemeldet wurde, konnte das „Grasen“ im Walde unberechenbare Nebenwirkungen haben: „Unter der Sichel fallen auch alle Beersträucher, so daß die heurige Ernte in Erdbeeren und Heidelbeeren gleich Null ausfallen wird“.
Dass die Übergriffe der verzweifelten Bauern weit verbreitet gewesen sein müssen, zeigt das Gnadengesuch, das der 1. Vorstand des Fränkischen Bauernbundes, Freiherr Carl von Thüngen, im August an Seine kgl. Hoheit den Prinzregenten gerichtet hat, „um eine allgemeine Amnestie für alle wäh-rend der Dauer der Futternoth wegen Futter- und Streufrevel Gerügten zu erwirken“.
Die Laubentnahme aus den Wäldern traf auch auf Bedenken allgemeiner Art. Forstleute waren der Meinung, „der Wald brauche das, was er produziere, zu seiner eigenen Ernährung“. Dagegen behauptete ein Leserbrief an die „Aschaffenburger Zeitung“, daß Untersuchungen im Badischen zu dem Ergebnis geführt hätten, Waldungen entwickelten sich dann am schönsten, wenn ihnen häufig das Laub entnommen würde. Schon wenige Tage später wurden diese „Erfahrungen . . . in schärfster Weise“ zurückgewiesen. Dieser Schreiber, wohl ein Förster, sieht das genaue Gegenteil für erwiesen an, kommt aber zuletzt zu dem ausgewogenen Urteil: „So ungern der Forstwirth die Waldstreu, diesen natürlichen Dünger unseres Waldes und hochwichtigen Faktor seiner Erhaltung, abgibt - im heurigen ausgesprochenen Nothjahr bietet er bereitwillig die Hand dazu, denn der Wald ist nicht Selbstzweck, sondern er soll dem Wohl der Menschen dienen, soviel er kann“.
Die Obrigkeit wird tätig
Die erste regionale administrative Maßnahme betraf „Tanzmusiken“. Das Bezirksamt Hammelburg verfügte, daß „wegen der ungünstigen Verhältnisse sowie mit Rücksicht auf die Erntearbeiten in der Zeit vom 18. Juni bis 15. September Tanzmusik-Bewilligungen vom Amte nicht ertheilt würden“. Das hat freilich auch nicht die Futternot gelindert, noch den Bauern geholfen, sie wenigstens vorübergehend zu vergessen.
Wegen der hohen Zahl von Kavallerie- und Zugpferden in der Armee, vor allem für den Transport von Geschützen und Munitionswagen, verfügte das Kriegsministerium über eigene „Mahl-Mühlen“; deren Anfall an Kleie wurde nun der Landwirtschaft mit einem Preisnachlaß von 10 Prozent angeboten. Noch vor dem Juli war sie bereits bis einschließlich September vergeben. Der Staat nahm auch auf den Geldmangel der Käufer Rücksicht, indem er bis Ende Oktober auf Antrag „eine Stundung der Bezahlung gewährte, wenn das landwirtschaftliche Bezirkskomitee die Haftung übernimmt“.
Als hochwertiges Futtermittel begehrt waren Schlempe und Treber, Nebenprodukte der Branntweinherstellung, die kontingentiert war und in anderen Jahren am 30. Juni endete. Die landwirtschaftlichen Kreiskomitees stellten bei der Regierung den Antrag, die Beschränkungen aufzuheben, damit den Bauern weiterhin diese Futtermittel angeboten werden könnten.
Zu den ersten staatlichen Maßnahmen gehörte auch, „daß im inneren bayerischen Verkehre bei Aufgaben von Wagenladungen Futtermittel, Kartoffeln, Samen und Sämereien sowie Heu und Stroh zu den um ein Drittheil ermäßigten Sätzen der normalen Fracht befördert werden, soferne . . . die bezogenen Gegenstände zur unmittelbaren Verwendung für landwirthschaftliche Zwecke bestimmt sind“. Später wurden die Transportkosten auf 50 Prozent der alten Tarife ermäßigt und die Frachterleichterung bis Ende Oktober 1893 verlängert.
Die Frachtrückvergütung, von den Bahnkunden dringend gebraucht und deshalb sehnsüchtig erwartet, wurde für manche eine Enttäuschung, weil sie nicht beachtet hatten, daß die Ermäßigung nur für die bayerischen Bahnen galten und die „bayrische Staatsregierung über Frachten außerbayerischer Eisenbahnen nicht verfügen kann“; sich aber wahrscheinlich auch nicht um ihr Entgegenkommen bemüht zu haben scheint.
Kritik an den Hilfsmaßnahmen
Gemessen an der Größe der Not, waren diese staatlichen Maßnahmen nur Stückwerk, und zurecht hatte man den Eindruck, daß sie nicht ausreichten, die Verelendung der Bauern aufzuhalten oder gar den Landwirten wieder auf die Beine zu helfen. In einem Leserbrief an das „Schweinfurter Tagblatt“ stellt der Verfasser die rhetorische Frage: „Wäre es nicht angezeigt, daß seitens der Staatsregierung durch Abgabe von Futter aus Gegenden, wo die Preise noch nicht so hoch sind, oder durch die Bewilligung von Mitteln aus Staatsfonds für wenig bemittelte Gemeinden oder sonst wie, schleunigst Maßregeln ergriffen werden, um diesem Nothstand entgegen zu wirken? Wenn nichts geschehen wird, werden viele Landleute den Wucherern in die Hände fallen“.
Zu schnellerem Handeln mag die Regierung aber eher die Beobachtung bewogen haben, daß „in den nothleidenden Gegenden . . . beim Bauernstande eine sehr bedenkliche Gährung“ herrscht, „so daß die Regierung allen Grund hat, ebenso rasch als gründlich einzugreifen und die Misere, soweit dies in ihrer Macht liegt, abzustellen“. Ein Schweinfurter hat bei der Reichstagswahl am 15. Juni 1893 auf seinem Wahlzettel die Situation in einem Vierzeiler so charakterisiert:
„Die Scheunen leer,
Keine Ernte mehr,
Man kann sich nicht mehr rathen
Und immer mehr Soldaten“.
Rettungsaktionen laufen an
Am 25. Juni wurden in Würzburg ca. 100 Waggons Futtermittel und Mais bestellt. Aus Tirol und Holstein wurde Heu bezogen. Allein aus Ebern wurde vom landwirtschaftlichen Bezirksverein 2000 Zentner Futterkleie, 1000 Ztr. Mais, 1000 Ztr. Futterstroh und 1000 Ztr. Torfstreu zu sofortiger Lieferung bestellt. Anfang Juli waren selbst aus Amerika „zahlreiche mit Heu beladene Dampfer“ nach Deutschland unterwegs.
Der Verkauf von Heu und Stroh nahm solche Ausmaße an, daß „in Nieder- und Oberbayern gar wegen des ungeheuren Heu- und Strohversandts Sorge für das Frühjahr herrscht“.
Einer weiteren Verknappung von Futtermitteln sollte auch das Ausfuhrverbot für Heu und Kleie vorbeugen, das am 3. Juli vom Bundesrat beschlossen und sofort in Kraft gesetzt wurde. Ende Juli erholte sich der Markt für Rinder und Schweine. Aus Scheinfeld wurde gemeldet: „Die Preise gingen durchweg bedeutend in die Höhe und näherten sich dem früheren Stand . . . in Folge des wohl allerwärts eingetretenen durchweichenden Regens (ist) von der noch vor einigen Wochen stattgehabten kopflosen Verschleuderung des Viehes keine Rede mehr“. In der Verringerung des Viehbestands sah man jetzt eher eine Rückkehr „in den früheren richtigen normalmäßigen Stand“, nachdem „von großen sowohl als kleinen Oekonomen in Folge der letzten guten Futterjahre überall viel mehr, häufig auch zuviel Vieh gehalten“ worden war.
Verbilligtes Stroh war ausschließlich für Bedürftige gedacht. Deshalb wies das „Hammelburger Journal“ „die besser situirten Landwirthe“ auf einen Getreidehändler im österreichischen Schärnding hin, von dem sie Roggen- und Weizenstroh in guter Qualität beziehen könnten. Der Zentnerpreis für dieses Stroh übertraf allerdings den für Kartoffeln auf dem Schweinfurter Viktualienmarkt um fast 50 Prozent.
Am 23. Juni wurde den Landwirten ein unverzinslicher Kredit zum Kauf von Futterpflanzen, Futtermais, Futterkleie und Sämereien in Aussicht gestellt. Rückzahlungstermin für Sämereien war bereits der 1.Januar 1894, für das Futter galt der 1.Juli 1894. Die Knappheit der Zeitspannen für die Schuldentilgung spricht nicht dafür, daß die Regierung die Notlage der Bauern realistisch eingeschätzt hat. Im September ließ die bayerische Regierung verlauten, es hätten die „von der Staatskasse an die Landwirthe gewährten Darlehen und Vorschüsse den Betrag von nahezu zwei Millionen Mark“ erreicht. „Diese sämtlichen Darlehensgelder sind unverzinslich und auf viele Jahre hinaus gestundet, während sich andere deutsche Staaten zwei und drei pCt.(Prozent) Zins zahlen lassen“.
Nicht von der Futternot veranlaßt war im Juni eine Neufassung des sogenannten Wuchergesetzes verkündet worden, das aber „unter Umständen bei der jetzigen Nothlage der Landwirthschaft wird angewandt werden können“. „Wenn Händler die augenblickliche Lage der Klein- und Großbauern dazu mißbrauchen wollen, ihm sein Vieh für lächerliche Schleuderpreise abzukaufen, so fällt das unter die Gesetzesbestimmung“.
Verzicht auf Manöver
Unterfranken, vor allem die Gegend von Gerolzhofen, war traditionell Schauplatz der jährlichen Herbstmanöver der Kavallerie. Den Quartiergebern, die kaum für sich und ihr Vieh etwas zum Beißen besaßen, wollte man die übliche Verpflegung der einquartierten Männer und Pferde nicht für die ganze Dauer der Übung zumuten und sah deshalb, in einer Entscheidung vom 19. Juni, Verpflegung aus den militärischen Magazinen vor, zumindest vom zweiten Tag an. Zehn Tage später wurden die Manöver ganz abgesagt, was auch von Wilhelm II., dem deutschen Kaiser, uneingeschränkt gutgeheißen wurde.
Behandlung der Futternot im Bayerischen Landtag
Ein großes Interesse des Landtags an den Folgen der langen Trockenheit läßt sich dem Journal nicht entnehmen. Der von den „fränkischen Provinzen“ Mitte Juli geäußerte Wunsch nach einer „außerordentlichen Session behufs Berathung und Beschlußfassung über die staatlichen Unterstützungsmaßregeln“ fand nicht die Billigung des Innenministers. „Die Regierung werde so viele Mittel, als der Reihe nach vorhanden (was immer auch das heißen mag), dem Bauernstand zur Verfügung stellen und sich später vom Landtage nachträglich Genehmigung dafür ertheilen lassen“. Angesichts der Klagen „über nicht geliefertes Stroh“ weiß der Regierungspräsident nur den Rat, „die Landwirthe müßten eben etwas haushälterisch mit ihrem Vorrath umgehen“.
Die Folgen trafen letztlich die Kleinen
Trotz aller Hilfsmaßnahmen wurde dieser Winter für die Bauern eine sehr harte Zeit: Strohlieferungen kamen zu spät, weil die Verantwortlichen bis zum Jahreswechsel die Not unterschätzt hatten; manche Bestellungen von Futter- und Streumitteln mußten erst noch auf die Mittelbewilligung durch die Regierung warten und - wie zu allen Zeiten - Geschäftemacher suchten sich auf Kosten der Notleidenden zu bereichern: Sie mischten den Kraftfuttermitteln „Sand, gemahlene Steine, Erde und dgl“ bei.
„ Der Gerichtsvollzieher ist jetzt in der Zeit der Noth leider eine vielbeschäftigte Person“.
Die Meldungen über die Futternot wurden in der ersten Monaten des neuen Jahres seltener, was eine Fortdauer der Not nicht ausschließt, bis plötzlich - wir sind schon in der Mitte des Monats April 1894 -erneut über Regenmangel geklagt wird: „Das Land schreit nach Regen .“ Beobachter finden erschreckende Parallelen zum Katastrophenjahr 1893..
Die Sorgen bleiben
Zum Glück bewahrheiten sich die Befürchtungen nicht. Am 17. April 1894 meldet das Journal, daß sich durch den Regen der letzten Tage die Aussichten, „bald Grünfutter in genügenden Mengen zu bekommen, erheblich günstiger gestaltet haben, wodurch es vielen Oekonomen möglich werden wird, ihren jetzigen Viehstand auch ferner zu erhalten“.
Die Bauern konnten aufatmen. Zwar waren die Schäden groß, die akute Gefahr aber für ihre Existenz war gemeistert. Auf wie lange? Das konnte bei ihrer Abhängigkeit vom Wetter niemand sagen.
Dietmar Katzer
(Ich danke Herrn Härdle vom Hammelburger Stadtarchiv für seine freundliche Unterstützung.)